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29.07.2018 16:00
Die Elitokratie
Weltweit werden die Menschen gezielt belogen und
manipuliert. Exklusivabdruck aus „Die öffentliche Meinung“.
Heute wird mehr gelogen als je zuvor und die Eliten wissen ganz genau, was sie
tun. Zentrales Ziel: der manipulative Zugriff auf die inneren Bilderwelten der
Menschen und die Steuerung der öffentlichen Meinung. Grundlagen und Methoden der
umfassenden Einflussnahme auf Bürger und Individuen wurde bereits 1922 in den
USA durch Walter Lippmann erkannt und formuliert... [Quelle:
rubikon.news] JWD
...Seine glänzende Analyse ist heute aktueller denn je: Wer begreifen will, wie
die Methoden zur Meinungsmanipulation funktionieren und sich gegen den Zugriff
auf die eigenen Vorstellungswelten und Meinungsbildung wehren will, kommt an der
Lektüre des Klassikers „Die öffentliche Meinung“ von Walter Lippmann, aus dem
Rubikon hier einen exklusiven Auszug veröffentlicht, nicht vorbei. Informationen
zum Buch sowie die Quellenangaben finden Sie auf der Internetseite des Verlages
(a). Zur weiteren Lektüre empfehlen wir auch die Arbeit
„Meinungsmanipulationsstrategien in Frieden und Krieg“ von Rubikon-Herausgeber
Jens Wernicke (b).
Foto: jakkapan/Shutterstock.com | Quelle: Rubikon
(verlinkt) von Silja Graupe und Walter Ötsch
Walter Lippmann gilt in den USA als der am meisten
gelesene politische Autor des 20. Jahrhunderts. Seine Lebenszeit
(23.9.1889 - 14.12.1974) umspannt den Aufstieg der USA zur globalen Supermacht.
Nicht ohne Berechtigung trägt eine umfangreiche Biografie den Titel Walter
Lippmann and the American Century (Steel 1980). Eine andere Biografie beginnt
mit folgender Aufzählung: Lippmann war Assistent des großen investigativen
Journalisten Lincoln Steffen, geschäftsführender Sekretär eines sozialistischen
Bürgermeisters, Mitglied im Team der Erstherausgeber eines führenden politischen
Journals, Berater der Regierung Wilson in vier verschiedenen Funktionen,
Herausgeber der führenden Zeitungen der 1920er-Jahre, über 35 Jahre Kolumnist in
mehreren Pressemedien gleichzeitig (mit mehreren tausend Beiträgen), Autor von
22 Büchern und Freund und Kollege der angesehensten und mächtigsten Personen in
den USA (Adams 1977, S. 15) (1).
Lippmann verfasste von 1931 bis 1967 (meist viermal, später dreimal die Woche)
eine Kolumne in der New York Herald Tribune und dann in der Washington Post mit
dem Titel Today and Tomorrow, diese Kolumne wurde in mehr als 200 Zeitungen im
Lande gleichzeitig veröffentlicht (vgl. die Liste von über 300 Kolumnen in
Goodwin 2014, S. 377ff.). Lippmann war primär ein Journalist, der für eine
gebildete Elite schrieb und am Höhepunkt seines Wirkens regelmäßig mehr als zehn
Millionen LeserInnen erreichen konnte (Goodwin 2013). Sein persönlicher Einfluss
war legendär, Lippmanns Name konnte beinahe jede Türe öffnen. Mehrmals ist es
ihm gelungen, den politischen Diskurs in den USA zu verändern; Präsidenten,
Politiker und die politisch interessierte Öffentlichkeit hörten auf ihn. Er
verhinderte einen Krieg der USA mit Mexiko (Wasniewski 2004, S. 63ff.),
verhandelte geheim und erfolgreich zwischen Mexiko und dem Vatikan, hat den
berühmten 14 Punkte-Plan von Wilson entscheidend mitgestaltet, verfasste
politische Reden für viele Präsidenten und beriet Kennedy und Johnson (Steel
1980, S. xiiiff).
In Europa hingegen war und ist Walter Lippmann immer noch wenig bekannt, auch
nicht in seinem Einfluss auf politische Weichenstellungen, die die Geschichte
Europas verändert haben. Lippmann war etwa maßgeblich daran beteiligt, das
Sprachbild des »Kalten Krieges« im politischen Bewusstsein zu verankern
(Lippmann 1947; Porter 2011). Wodurch man die Öffentlichkeit erreicht und wie
man Meinungen beeinflussen kann, wird von ihm in Die öffentliche Meinung auf
eine neue Weise beschrieben, das Buch wurde 1922 publiziert und gilt als eines
seiner wichtigsten Werke. Lippmann hat damit eines der ersten grundlegenden
Arbeiten über eine Thematik verfasst, die damals im Klartext »Propaganda«
genannt wurde, – heute wird dieser Begriff vermieden und lieber von Public
Relations gesprochen, wobei sich in der Sache aber nichts geändert hat. Das Buch
gilt vielen Autoren als zentral für das Verständnis der heutigen Massenmedien,
von Public Relations und der Wirkung von Bildern auf und in der modernen
Gesellschaft (etwa Gárcia 2010). Insbesondere in den
Kommunikationswissenschaften wird es oft als grundlegend bezeichnet (Kaid 2004.
Zu einem Überblick über die Rezeption in der Psychologie und in den
Sozialwissenschaften vgl. Bottom/Kong 2012, S. 376ff.).
Lippmann beschreibt in Die öffentliche Meinung, wie Menschen durch imaginative
Bilder beeinflusst und gesteuert werden können. Die Aktualität dieser
Fragestellung liegt auf der Hand: Wir leben in einer Welt, in der andauernd
versucht wird, die Vorstellungswelten breiter Schichten der Bevölkerung zu
beeinflussen. Werbung, politischer Spin und Inszenierungen sind
selbstverständlicher Bestandteil von Wirtschaft und Politik geworden. Der
Rechtspopulismus hat dem eine neue Note verliehen. Auffallend ist, wie wenig
über die mediale Beeinflussung von imaginativen Vorstellungen reflektiert wird.
Ist Lippmanns Befund korrekt, dass die Fähigkeit verloren gegangen ist, über
eigene Imaginationen und deren Veränderung in gebührender Distanz nachzudenken
und sie aktiv zu gestalten? Lippmanns Werk ist für uns ein wichtiger
Ausgangspunkt, um diese wichtige Frage zu thematisieren.
»Die Bilder in unseren Köpfen«
Die öffentliche Meinung ist kein wissenschaftliches Werk im üblichen Sinn; Wilke
spricht von einem »eigentümlich unsystematischem Vorgehen« (Wilke 2007, S. 602)
(2). Lippmann ist kein Wissenschaftler, sondern Journalist, wenngleich er durch
seine Studien in Harvard über eine Bildung in den in seinem Werk angesprochen
Fragen verfügt. Lippmann verarbeitet in seinem Text eher assoziativ und narrativ
eine Vielzahl von Themen, die weder klar voneinander abgegrenzt sind, noch klare
Formen eines linearen Bezugs aufweisen. Zudem werden diese Themen häufig in
damals aktuelle Kontexte eingebettet, die heutzutage oftmals verloren scheinen.
Der Leser oder die Leserin heute ist deswegen verleitet, die vielen
Assoziationen und Gedankengänge Lippmanns eher auszublenden, als sie für ein
besseres Verständnis fruchtbar zu machen. Wie in unserer Einführung – so hoffen
wir – deutlich werden wird, sind es aber gerade diese Assoziationen und
Gedankengänge, die äußerst lebendige Bilder der von Lippmann behandelten
Probleme zu geben vermögen: Bilder, die unsere produktive Einbildungskraft und
unsere schöpferische Imagination anregen und gerade deswegen kaum geeignet sind,
zu fixen, unreflektierten Stereotypen zu mutieren, die Lippmann als das zentrale
Element einer von selektiver Wahrnehmung geprägten und prinzipiell durch Bilder
steuerbaren Gesellschaft sieht. Anders: Der Stil, in dem Lippmann schreibt, mag
nicht gerade einfach sein. Unserer Lesart zufolge aber trägt er wesentlich dazu
bei, dass Lippmann zwar über Stereotype schreibt, doch zumeist ohne selbst mit
und in Stereotypen zu argumentieren. Die öffentliche Meinung betrachten wir
deswegen nicht als Werk der Propaganda, der Manipulation oder der Beeinflussung,
gleichwohl es sich über weite Strecken als ein Handbuch für diese Praktiken
lesen lassen mag. Lippmann, so scheint es uns, möchte mit Die öffentliche
Meinung aufklären, zum Denken anregen und Debatten anstoßen – alles individuelle
wie soziale Praktiken, die er bereits Anfang des letzten Jahrhunderts auf dem
Rückzug in unseren westlichen Gesellschaften sieht.
Walter Lippmann beginnt Die öffentliche Meinung mit seinem Kerngedanken:
Menschen verfügen über keinen einfachen und direkten Zugang zu der »äußeren
Welt«, stattdessen ist eine »Pseudoumwelt« dazwischen angesiedelt. Allein auf
diese Vorstellungswelt reagieren Menschen. Aber ihr Handeln hat Folgen – nicht
in der Vorstellungswelt, sondern in der Realität, der Handlungswelt (S. 64).
Dieser Unterschied stellt für Lippmann den Schlüssel schlechthin dar, um die
moderne Gesellschaft zu verstehen und der Frage nachzugehen, wie sie gestaltet
werden kann. Lippmann verwechselt dabei die Pseudoumwelt nicht mit irgendeiner
Form des Individuell-Subjektiven im Menschen, er spricht ausdrücklich von einer
systematischen Trennung der Pseudoumwelt vom Menschen: Letztere »ist« weder
dieser Mensch, noch könnte dieser über jene vollständig verfügen. Was aber ist
sie dann? Lippmann spricht von »Fiktionen«, wobei er betont, dass damit keine
Lügen gemeint seien. Stattdessen versteht er darunter
»ein Bild der Umwelt, wie es sich der Mensch mehr oder weniger selbst schafft.
Die Reihe der Fiktionen beginnt bei der vollkommenen Halluzination und endet bei
der völlig bewussten Anwendung eines schematischen Modells durch den
Wissenschaftler oder bei dessen Folgerung, dass für sein besonderes Problem
jenseits einer bestimmten Anzahl von Dezimalstellen Genauigkeit unwichtig ist«
(S. 64f.).
Der Bogen, den hier Lippmann von Halluzination bis zur vollständigen Bewusstheit
aufspannt, scheint uns von enormer Bedeutung zu sein. Denn er verweist auf die
Frage, in welchem produktiven Verhältnis die beiden Seiten – Fiktionen auf der
einen, der Mensch auf der anderen Seite – stehen. Halluzinationen, so könnte man
sagen, passieren uns Menschen, sie fallen oder überfallen uns, ohne dass wir uns
gegen sie wehren könnten. Wir »machen« sie also nicht in dem Sinne, dass wir
über diesen Schaffensakt entscheiden oder ihn kontrollieren könnten. Sie
entstehen zwar in unseren Köpfen, aber wir haben keine Macht darüber, wie dies
passiert.
Lippmanns Beispiel wissenschaftlicher Modelle verweist hingegen auf ein anderes
Verhältnis, in dem der Mensch der Erschaffer seiner eigenen inneren Bilder ist
und den damit einhergehenden schöpferischen Prozess bewusst gestalten und in der
Folge auch kontrollieren kann (3). Der Mensch verfügt bei Lippmann – und das ist
auch für Lippmanns Mitwirkung an der Entstehung des Neoliberalismus entscheidend
– immer auch über die Freiheit, bestimmte Bilder in seinem Kopf zuzulassen, sie
dort zu verfeinern oder aber zu verändern oder gar gänzlich zu negieren und als
unangemessen (nach welchen Kriterien auch immer) zurückzuweisen.
Vereinfacht gesprochen: Lippmann erkennt und bespricht in Die öffentliche
Meinung die Gefahr (oder auch nur das einfache Faktum), dass Menschen zu seiner
Zeit immer mehr beginnen, auf Bilder in ihren Köpfen zu reagieren, deren eigener
Schöpfer sie nicht sind, sondern eher wie besagte Halluzinationen gleichsam aus
einer dunklen Quelle stammen, über die sie keine Macht zu haben scheinen. Wir
Menschen schaffen ihm zufolge weniger Bilder, als dass wir bloß (noch) auf diese
Bilder reagieren. Obwohl diese Bilder in unseren Köpfen sind, sind es streng
genommen nicht unsere, sofern diese Art des »Besitzes« irgendeine Form der
Verfügungsgewalt implizieren sollte. Stattdessen gilt geradezu umgekehrt: Die
Bilder in unseren Köpfen beherrschen uns. Wer also diese Bilder beherrscht, kann
uns beherrschen. Somit stellt sich zunächst die Frage nach ihrem Ursprung. Wie
kommen derart mächtige Bilder überhaupt in unser Inneres?
Soziale Bilder-Welten
Für Lippmann ist die Pseudoumwelt eine Mischung »aus ›menschlicher Natur‹ und
den ›Bedingungen‹« (S. 72), das heißt gleichsam aus Angeborenem und sozialen
Faktoren wie etwa der Art der Sozialisation. ›Bedingungen‹ werden von Lippmann –
teils explizit und teils implizit – danach unterschieden, ob sie einer »primär«
oder einer »sekundär erfahrenen Wirklichkeit« entstammen (Terminologie nach
Wilke 2007). Die Bilder, die der primär erfahrenen Wirklichkeit entspringen,
können immer dort entstehen, wo Menschen in näherer, intimer Beziehung zu den
»abzubildenden« Dingen, Prozessen oder Personen stehen (S. 116). Sie entstehen
vor allem im alltäglichen Umgang und dort, wo Menschen gewissermaßen Experten
ihres eigenen Lebens sind und direkten Zugang zu den Ereignissen haben.
Doch im modernen Leben, so Lippmann, verfügen wir in vielen Bereichen weder über
die Kraft noch die Fähigkeit, unsere eigenen Vorstellungen in und mittels
direkter Erfahrung auszubilden. Stattdessen leben wir in einer »sekundär
erfahrenen Wirklichkeit« (Wilke 2007, S. 608), in der wir über Vorstellungen von
Dingen, Prozessen und Menschen verfügen, bevor wir diesen begegnen oder –
extremer noch – bevor wir ihnen überhaupt jemals begegnen und doch aufgrund
dieser Bilder ein Urteil über sie fällen, das dann handlungsleitend wird. Wenn
weder »Zeit noch Gelegenheit für eine nähere Bekanntschaft« ist, dann müssen wir
nach Lippmann »den Rest des Bildes mittels der Stereotypen, die wir in unseren
Köpfen herumtragen« füllen (S. 116). Damit wird durch Bilder – vermittelt über
ein »Medium der Fiktion« (S. 64) – eine soziale Realität geschaffen, in der sich
Menschen aufeinander beziehen und in der sie handeln. Dieser Prozess gilt
Lippmann als unvermeidbar:
»Denn die reale Umgebung ist insgesamt zu groß, zu komplex und auch zu fließend,
um direkt erfasst zu werden … Obgleich wir in dieser Umwelt handeln müssen,
müssen wir sie erst in einem einfacheren Modell rekonstruieren, ehe wir damit
umgehen können« (S. 65).
Lippmann erkennt, dass diese Art der Realitätsgestaltung in modernen
Gesellschaften vor allem durch das Aufkommen der Massenmedien enorm zunimmt. Der
Konsum von Medien, darauf weist Martus in seinem Werk »Aufklärung« hin (Martus
2015), entbettet Wissen immer mehr von alltäglicher Erfahrung. Die von Zeitungen
und anderen Medien entworfenen Bilder von fernen Ereignissen lassen sich nicht
durch persönlichen Austausch, Begegnungen und so weiter revidieren. Gleichzeitig
motivieren sie kaum noch zu direktem Handeln. Wir erfahren aus den Zeitungen
(und heute aus dem Internet und vor dem Fernseher) von Hungerkatastrophen,
Kriegen und Umweltverschmutzungen, aber diese Ereignisse begegnen uns nicht in
der Sphäre des öffentlichen Lebens, sondern am Frühstückstisch oder im
Fernsehsessel und damit inmitten der Zurückgezogenheit des Privatlebens. Wir
sind es folglich nicht nur gewöhnt, bildhafte Vorstellungen ohne persönliche
Erfahrung oder direkte Involviertheit zu übernehmen, sondern auch, auf diese
Vorstellungen nicht mehr unmittelbar, sondern allenfalls mittelbar zu reagieren.
Der Hunger in Nigeria, Somalia, im Südsudan und Jemen wird über flimmernde
Fernsehbilder oder Bilder und Druckerschwärze in unsere Wohnzimmer gebracht, und
im Extremfall sind wir sogar daran gewöhnt, sie zusammen mit dem täglichen
Abendbrot oder Frühstück zu konsumieren. Unsere aktuelle (private) Situation
kann uns folglich auch nicht sagen, zu welchen Handlungen uns die Bilder bewegen
sollten. Mit dem über Bilder vermittelten Wissen geht keinerlei Können einher,
und eine direkte praktische Involviertheit scheint in jedem Falle
ausgeschlossen.
Es ist unserer Lesart zufolge genau diese Grundkonstitution der
Mediengesellschaft, die Walter Lippmann zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen
nimmt.
Die Herrschaft der Bilder
Lippmanns Sorge ist, dass die »Demokratie in ihrer ursprünglichen Gestalt sich
niemals ernsthaft mit dem Problem auseinandergesetzt hat, das daraus entsteht,
dass die inneren Bilder der Menschen nicht automatisch mit der äußeren Welt
übereinstimmen« (S. 76). Weil innere Bilder zu Handlungen motivieren, ist
politisches Handeln für ihn bilderbasiert. Die politische Meinungsbildung
erfolgt dabei kaum rational: Ihre Grundlage sind Gefühle, die unmittelbar aus
der Vorstellung entspringen. Menschen reagieren auf ihre Emotionen, die Bilder
hervorrufen, und diese Emotionen werden kaum aktiv hinterfragt oder tätig
verändert. Lippmann beschreibt dies plastisch am Beispiel eines Berichts über
ein in Russland hungerndes Kind. Man hat Mitleid, will ihm Nahrung geben,
verfügt aber über keinen direkten Zugang zu diesem Kind. Man kann also nur
»einer unpersönlichen Organisation oder deren Personifikation, zum Beispiel Mr.
Hoover, Geld geben … Genauso wie der Gedanke selbst erst aus zweiter Hand kommt,
so auch die Wirkung der Aktion. Die Erkenntnis ist indirekt, der Willenstrieb
ist indirekt, lediglich die Wirkung selbst ist unmittelbar« (S. 199f.).
Menschliches Handeln droht auf diese Weise auf einen Reiz-Reaktions-Mechanismus
reduziert zu werden: Im Falle des hungernden russischen Kindes wird das Gefühl
»Mitleid« erweckt und dieses Gefühl löst einen Zahlungsimpuls aus, – eine
weitgehend anonyme, nahezu vollständig vom eigentlichen Wirkungskontext
entkoppelte Reaktion. Ein solcher Impuls impliziert keinerlei Können mehr, mit
dem das Problem »Hunger« in irgendeiner Weise gelöst werden könnte. Die
Kompetenz, eine Überweisung auszufüllen oder Geld in einen Klingelbeutel zu
werfen, hat nichts mit den Kompetenzen zu tun, die es bräuchte, um einem Kind in
tausenden Kilometer Entfernung tatsächlich die Nahrung zu bringen, die es
benötigt.
Entspricht die Konstellation, die sich anhand dieses Beispiels abzeichnet,
grundsätzlich unserer Situation heute, in dem Menschen scheinbar
handlungsunfähig möglichen ökonomischen, politischen und ökologischen Krisen
entgegentaumeln? Es ist jedenfalls unverkennbar, dass Lippmann in diesen
Prozessen die Grundlage für eine Art »Emotionsmanagement« sieht, das eben gerade
nicht mehr durch den Menschen selbst, sondern durch sein Umfeld verantwortet
wird. Denn da sowohl die Herkunft der emotionsweckenden Bilder als auch ihre
tatsächlichen Wirkungen außerhalb des individuell-menschlichen
Tätigkeitsbereichs liegen, lassen sich beide seiner Ansicht nach von anderen,
das heißt von Dritten, gestalten. Lippmann fasst den Gestaltungskreis auf beiden
Seiten sehr weit: Auf der Wirkungsseite dient das gespendete Geld der
Erleichterung vom Gefühl des Mitleids, – was mit dem Geld dann wirklich gemacht
wird, ist sekundär. Und auch auf der Seite der auslösenden Reize postuliert
Lippmann einen großen Handlungsraum. Denn es lässt sich der ursprüngliche Reiz
immer weiter verallgemeinern, bis er durch ein bloßes »Symbol« ersetzt ist:
»Wenn zum Beispiel jemand den Völkerbund nicht mag, der andere Wilson hasst und
ein dritter die Gewerkschaften fürchtet, können wir sie unter einen Hut bringen,
sofern wir ein Symbol entdecken, das die Antithese zu ihrem Hassgegenstand ist.
Angenommen dieses Symbol wäre Amerikanertum … Das Symbol in sich selbst stellt
an und für sich nichts Besonderes dar, aber es kann sich mit beinahe allem
verbinden. Und deshalb kann es das gemeinsame Band gemeinsamer Gefühle werden,
selbst wenn diese ursprünglich an auseinanderstrebende Ideen geknüpft waren« (S.
200).
Überdeutlich wird hier die Macht des Bildermachens als zentrales
Herrschaftselement der heutigen Gesellschaft – mit Folgen für jede einzelne
Person: Die Bilder in jedem Kopf (ausgelöst durch externe Reize und »Symbole«)
sind nur zu einem geringen Teil von diesem Kopf selbst gemacht. Denn die
menschliche Wahrnehmung ist zumeist von Stereotypen geprägt, deren Ursprungsort
der betroffenen Person fremd ist. (Im Hintergrund stehen hier Lippmanns eigene
Erfahrungen und Analyse der Fehler bei den Verhandlungen in Versailles und
Keynes’ diesbezügliche Kritik, vgl. Bottom/Kong 2012, S. 373ff.):
»Meistens schauen wir nicht zuerst und definieren dann, sondern definieren erst
und schauen dann. In dem großen blühenden, summenden Durcheinander der äußeren
Welt wählen wir aus, was unsere Kultur bereits für uns definiert hat, und wir
neigen dazu, nur das wahrzunehmen, was wir in der Gestalt ausgewählt haben, die
unsere Kultur für uns stereotypisiert hat« (S. 110).
Damit geht nach Lippmann ein starker Verlust menschlicher Vorstellungskraft
einher. Menschen scheinen in der Regel weder einzeln noch gemeinsam über die
Fähigkeit zu verfügen, die sekundär erfahrene Wirklichkeit zu gestalten. Ja, sie
merken zumeist noch nicht einmal, dass es überhaupt etwas zu gestalten gäbe,
weil sie weder individuell noch kollektiv den substantiellen Unterschied
zwischen Bild und Realität, sekundär und primär erfahrener Wirklichkeit, auch
nur ansatzweise zu erkennen vermögen. Sie glauben schlicht an die »Wahrheit« der
Bilder in ihren Köpfen: »was auch immer wir für ein echtes Abbild halten, wir
behandeln es wie die Umwelt selbst.« (S. 56) Und mehr noch: Nicht nur scheinen
Menschen keine Macht über die sekundär erfahrene Wirklichkeit zu haben; diese
Wirklichkeit scheint nach Lippmann im gewöhnlichen modernen Alltag auch dort zu
dominieren, wo eine primär erfahrene Wirklichkeit eigentlich existieren könnte,
das heißt, wo unser Leben in konkreten Beziehungen, gelebten Kontexten und
Begegnungen die Vorurteile stereotyper Wahrnehmungen einfach überwinden helfen
könnte:
»Der wirkliche Raum, die wirkliche Zeit, die wirklichen Zahlen, die wirklichen
Beziehungen, die wirklichen Bedeutungen sind verloren gegangen. Die Perspektive,
der Hintergrund und die Dimensionen der Handlung sind in der Stereotype
beschnitten und erstarrt« (S. 166).
All das betrifft nicht nur das individuelle Erkennen und Handeln, sondern vor
allem – das ist Lippmanns zentrales Anliegen – jede Form der Politik. Erkenntnis
und Politik bilden für ihn keinen Gegensatz. Denn »die Welt, mit der wir es in
politischer Hinsicht zu tun haben, liegt außer Reichweite, außer Sicht,
außerhalb unseres Geistes« (S. 75). Wer über Politik nachdenkt, darf diese
prinzipielle Schranke menschlicher Erkenntnis nicht ignorieren; eine Ignoranz,
die Lippmann allerdings gerade den Sozialisten und Demokraten seiner Zeit
vorwirft – Könnte dies angesichts der populistischen Herausforderung für die
Demokratie heute eine beklemmende Warnung sein?
Quelle: Rubikon (verlinkt)
Bilder-ExpertInnen
Wie dem aus sei: Eine Politik, die ausschließlich auf Aufklärung und breit
angelegten Sachverstand setzt, erscheint in Die öffentliche Meinung bestenfalls
als naiv, eher aber als gefährlich. Was aber kann eine Alternative sein? Kurz
gesagt liegt diese für Lippmann darin, der Mehrheit der Menschen nicht zur
Überwindung der in ihren Köpfen angelegten innerer Bilder zu verhelfen, sondern
geradezu umgekehrt: die Bildung dieser Bilder zu forcieren, um mit ihrer Hilfe
eine Pseudoumwelt zu schaffen, auf welche die Mehrheit planvoll und damit
zumindest prinzipiell vorhersehbar reagiert und damit steuerbar wird. Michel
Foucault hat einmal gesagt, zu regieren hieße, »das Feld eventuellen Handelns
der anderen zu strukturieren« (Foucault 1994, S. 255). Lippmann würde dem
vermutlich zustimmen, für ihn ist dieses Feld dabei klar eines der Imagination:
Die Regierung der Bevölkerung geschieht durch die Lenkung innerer Bilder. Für
Lippmann steht diese Regierungsform in keinem Gegensatz zur Demokratie. Im
Gegenteil: Hier liegt für ihn der Kern der modernen Demokratie begründet, wobei
er auf das Verständnis von der Bevölkerung als einer »Masse« zurückgreift (wie
bei Gustav LeBon, den Lippmann auch zitiert, S. 193). Zugleich leistet er der
Vorstellung einer »unsichtbaren Regierung« Vorschub, wie Edward Bernays sie
wenige Jahre später in seinem Werk Propaganda nennen wird:
»Die bewusste und intelligente Manipulation der organisierten Gewohnheiten und
Meinungen der Massen ist ein wichtiges Element in der demokratischen
Gesellschaft. Wer die ungesehenen Gesellschaftsmechanismen manipuliert, bildet
eine unsichtbare Regierung, welche die wahre Herrschermacht unseres Landes ist«
(Bernays 2005, S. 37) (4).
Aus unserer Sicht vermag Lippmann diesen zentralen Punkt in Die öffentliche
Meinung noch nicht klar zu formulieren. Doch vieles spricht dafür, dass er
gleichwohl als der noch nicht gänzlich ausgesprochene Fluchtpunkt von Lippmanns
Überlegungen angesehen werden kann.
Wer ist aber diese »unsichtbare Regierung«, von der Bernays spricht? Es mag für
uns, die wir selbst im 21. Jahrhundert immer noch bereit sind, nahezu
reflexartig die Politik oder sogar persönlich einzelne Politikerinnen und
Politiker zu nennen, erstaunen, dass Lippmann diesem Bereich der Gesellschaft
beziehungsweise dieser Gruppe von Menschen bereits Anfang des letzten
Jahrhunderts (wie Bernays übrigens auch) kaum Macht zusprechen will.
Tatsächliche Macht spricht er vielmehr Menschen und Institutionen zu, die für
die Politiker wie die Bevölkerung gleichermaßen die grundlegenden
Vorstellungsmuster prägen und damit den Raum des überhaupt Möglichen
systematisch eingrenzen, ja überhaupt erst erzeugen:
»Ich behaupte, dass ein repräsentatives Regime weder in dem, was gewöhnlich
Politik genannt wird, noch in der Industrie erfolgreich funktionieren kann,
gleichgültig, wie das Wahlsystem aussieht, wenn es nicht eine unabhängige,
sachkundige Organisation gibt, welche die ungesehenen Tatsachen für diejenigen
verständlich macht, die die Entscheidungen zu treffen haben. Ich versuche
deshalb darzulegen, dass nur die ernst gemeinte Übernahme des Prinzips der
Ergänzung persönlicher Repräsentation durch die Repräsentation der ungesehenen
Tatsachen uns eine befriedigende Dezentralisation und gleichfalls ein Entrinnen
aus der unerträglichen und undurchführbaren Fiktion gestattet, dass jeder von
uns eine kompetente Meinung zu allen öffentlichen Angelegenheiten erlangen
müsse« (S. 77).
Wer aber sollte diese »unabhängige, sachkundige Organisation« sein? Lippmann
verortet sie weder in der Politik noch in der Presse, das heißt in den Medien.
Er konstatiert zwar, dass allgemein erwartet wird, dass die Presse »täglich und
sogar zweimal am Tag ein getreues Bild der ganzen äußeren Welt« entwerfe (S.
279f.). Aber das kann sie nach Lippmann allein aufgrund der ökonomischen
Struktur des Zeitungs- und Verlagswesens nicht leisten. Stattdessen fordert er,
dass es noch Institutionen gleichsam »hinter« der Presse geben müsse, die die
»öffentliche Meinungen für die Presse« zu organisieren haben. Dies zu leisten
sei »Aufgabe vor allem einer politischen Wissenschaft« (S. 77), das heißt von
Experten und Expertinnen. Sie sollen gleichsam den Boden, das heißt die
Pseudoumwelt, vorbereiten, auf dem die Politiker ihre Entscheidungen treffen:
Lippmann wünscht sich ein unabhängiges Expertentum, das vollkommen
desinteressiert für die »ungesehene Faktoren in der Umwelt« eintritt (vgl. S.
319). Dies wird etwa an folgendem Beispiel deutlich:
»So folgt dem Abdruck vergleichender Statistiken über die Säuglingssterblichkeit
oft ein Zurückgehen der Sterblichkeitsquote von Säuglingen. Städtische Beamte
und Wähler hatten vor der Veröffentlichung in ihrem Bild von der Umwelt keinen
Platz für diese Kinder. Erst die Statistiken machten sie sichtbar, so sichtbar,
als ob die Säuglinge einen Ratsherrn gewählt hätten, um ihre Beschwerden an die
Öffentlichkeit zu bringen« (S. 319f.).
Dieses Expertentum kann dabei für Lippmann ganz unterschiedliche Formen und
Ausprägungen annehmen:
»Diese Männer sind unter allen möglichen Namen bekannt: als Statistiker,
Kalkulatoren, Bücherrevisoren, Industrieberater, Ingenieure vieler
Fachrichtungen, wissenschaftliche Direktoren, Personalsachbearbeiter, Forscher,
›Wissenschaftler‹ und manchmal als einfache Privatsekretäre« (S. 313).
Dabei ist Lippmann keineswegs naiv. Sehr genau weiß er, welcher enorme Zuwachs
an Macht für jeden Experten erwachsen kann:
»Überdies wird er in Zukunft mehr Macht ausüben als jemals zuvor, weil sich die
entscheidenden Tatsachen dem Wähler und dem Regierenden in steigendem Maße
entziehen werden« (S. 322).
Zugleich weiß Lippmann, dass mit diesem Zuwachs auch die Gefahr des
Machtmissbrauchs steigen wird:
»Aber die Fachleute werden Menschen bleiben. Sie werden die Macht genießen, und
sie werden in die Versuchung geraten, sich selbst zu Zensoren aufzuschwingen und
auf diese Weise die wirkliche Funktion der Entscheidung an sich zu reißen« (S.
322).
Das wesentliche Mittel, um dieser Gefahr zu begegnen, sieht Lippmann darin, die
Sichtbarmachung des ansonsten Unsichtbaren, wie sie die Experten vornehmen
sollen, von den Entscheidungen, die auf der Grundlage des Sichtbargewordenen
getroffen werden, personell wie institutionell strikt zu trennen:
»Die einzige institutionelle Sicherung dagegen besteht darin, so absolut wie
möglich die ausführenden Mitarbeiter von den Untersuchenden zu trennen« (S.
322f.).
Konkret fordert Lippmann, dass die Experten auf der einen und die (politischen)
Entscheider auf der anderen Seite möglichst getrennten Körperschaften angehören
sollten und, wenn möglich, aus verschiedenen Geldquellen bezahlt und von
verschiedenen Vorgesetzten verantwortet werden sollten (S. 324). Zudem fordert
er für die Experten gesicherte Geldquellen, so dass sie nicht von »alljährlichen
milden Gaben« (S. 325) abhängig sein müssen, Beamtenstellen auf Lebenszeit,
gesicherte und großzügige Pensionen sowie »Ferienjahre zur Fortbildung und
Schulung« (S. 325). Kurz:
»Wenn die Leistung hervorragend sein soll, müssen ihre Träger Ansehen,
Sicherheit und zumindest in den oberen Stufen jene Geistesfreiheit haben, die
man nur dort findet, wo Männer nicht zu unmittelbar mit praktischen
Entscheidungen befasst sind« (ebenda).
Lippmanns Werk Die öffentliche Meinung kann man also kaum vorwerfen, dem
Wildwuchs der heutigen Armada von Think Tanks, Politikberatungen, PR-Agenturen
et cetera Vorschub geleistet zu haben. Genauer: Es finden sich in diesem Werk
kaum Anzeichen dafür, dass er diesen Wuchs in irgendeiner Form begrüßt hätte.
Stattdessen schwebt ihm als ideale gesellschaftliche Entwicklung der Aufstieg
eines unabhängigen Expertentums vor, das eben gerade keine eigene politische
Agenda verfolgen und überdies in keiner Weise privat, sondern – wie bereits
skizziert – in Form eines Beamtentums organisiert sein soll, das über ähnliche
Rechte und Pflichten verfügen soll wie das akademische Personal an
Universitäten.
Doch woher sollen die ExpertInnen kommen? Wo sollen sie (aus)gebildet werden?
Auf welcher Grundlage sollen sie arbeiten und ihr Wissen und ihre Fähigkeiten
erlangen? In Die öffentliche Meinung setzt Lippmann sich für den »Aufbau von
Informationsdiensten« ein (vgl. S. 323). Doch wie diese genau etabliert werden
sollen, darüber findet sich (aus unserer Sicht besorgniserregend) wenig. Erkennt
und erläutert Lippmann zwar prinzipiell die Bedeutung dieser Dienste, so vermag
er dennoch lediglich für eine sehr pragmatische Art ihrer Einführung zu
plädieren: »Aber vorausgesetzt, dass das Prinzip irgendwo in jeder
gesellschaftlichen Tätigkeit einen Rückhalt besitzt, wird es Fortschritte
machen, und man beginnt damit, indem man eben beginnt.« (ebenda) Es seien
Informationsämter schlicht überall dort einzuführen, »wo man in einer
bestehenden Apparatur eine Lücke findet« (S. 324).
Angesichts der gewaltigen Verantwortungslast, die nach Lippmanns Konzeption von
Gesellschaft und Politik auf jenen ruht, die das Unsichtbare sichtbar machen
sollen, erscheint diese Vagheit der Ideen bezüglich der Etablierung der für
diese Gruppe von Menschen notwendigen institutionellen Kontexte tatsächlich
problematisch. Lippmanns Werk markiert aber zumindest in klarer Sprache eine
wesentliche Leerstelle, die in den knapp hundert Jahren nach seinem Erscheinen
in unserer Gesellschaft unseres Erachtens noch immer nicht oder doch kaum
gefüllt ist – und dies weder in systematischer noch praktischer Hinsicht.
Vom Missbrauch der Bilder
Wer oder was aber nimmt die Position der »unsichtbaren Regierung« ein, wenn
unabhängige Informationsdienste dazu nicht in der Lage sind oder sich in der
Gesellschaft noch nicht einmal ansatzweise etabliert haben? Lippmanns Werk ist
durchdrungen von Beispielen und systematischen Hinweisen, die zeigen, wie groß
die Möglichkeiten und die Gefahren des Missbrauchs der Erzeugung von inneren
Bildern sind und wie sich mit ihnen die Gesellschaft steuern lässt – ein
Missbrauch in dem Sinne, dass gesellschaftliche Gruppen in der »Masse« Bilder zu
erzeugen suchen, die Reaktionen hervorrufen, die nur den Partikularinteressen
dieser Gruppen dienen. Gut ein Jahrzehnt später als Lippmann wird Siegfried
Kracauer in seinem Werk Totalitäre Propaganda das auf den Punkt bringen: Es geht
nicht darum, Ideen zu ihrer Durchsetzung zu verhelfen, sondern darum, alle
möglichen Ideen für die eigenen Interessen in den Dienst zu stellen: Jedwede
Idee soll sich in den Köpfen von Menschen verankern lassen, wenn nur die
Reaktion auf diese Ideen zum eigenen Vorteil gereicht:
»Wird die Macht an sich begehrt, so spielt der Wahrheitsgehalt der Lehre, für
die man sich im Interesse dieses Begehrens einsetzt, nicht die geringste Rolle.
Gewiss, man muss eine Idee zu propagieren scheinen, um Herrschaft über die Masse
zu erlangen. Aber wichtig ist nicht, dass sich die Propaganda in den Dienst der
Ideen stellt, die als wahr erkannt wird. Wichtig ist, dass sich die Propaganda
darauf versteht, sich irgendwelcher Ideen zu bedienen. Die zündende Idee ist
eines der Instrumente der Propaganda, und nicht umgekehrt diese das Instrument
seiner Idee« (Kracauer 2013, S. 30).
Beinahe ebenso deutlich fasst Lippmann im vorliegenden Werk den Begriff der
Propaganda. So kommentiert er die französische Berichterstattung im Ersten
Weltkrieg (die eher einer Berichterfindung gleicht) mit folgenden Worten:
»Wir haben gelernt, das Propaganda zu nennen. Eine Gruppe von Menschen, die der
Öffentlichkeit den ungehinderten Zugang zu den Ereignissen verwehren kann,
arrangiert die Nachrichten, damit sie ihren Zwecken dienen. Dass in diesem Falle
der Zweck patriotisch war, berührt das Argument in keiner Weise. Sie benutzten
ihre Macht, um die Öffentlichkeit der alliierten Länder die Dinge so sehen zu
lassen, wie sie es wünschten« (S. 84).
Und ebenso deutlich nennt Lippmann mögliche Instrumente, um diese Form der
Propaganda Wirklichkeit werden zu lassen. Zentral ist dabei für ihn die Zensur,
die aus seiner Sicht weit über die (eher noch sichtbare) Zensur in der
Kriegsberichterstattung hinausgeht:
»Um Propaganda zu betreiben, muss eine gewisse Schranke zwischen Öffentlichkeit
und Ereignis errichtet werden. Der Zugang zu der wirklichen Umwelt muss begrenzt
werden, ehe jemand eine Pseudoumwelt errichten kann, die er für klug oder
wünschenswert hält. Denn während Leute, die unmittelbaren Zugang haben,
missverstehen können, was sie sehen, kann niemand sonst darüber bestimmen, wie
sie es missverstehen sollen, es sei denn, jemand könnte bestimmen, wohin sie
schauen und was sie sehen sollen. Die militärische Zensur ist die einfachste
Form dieser Schranke, aber keinesfalls die wichtigste, weil man weiß, dass sie
existiert und man ihr daher in gewisser Weise zustimmen oder sie ablehnen kann«
(S. 85).
Lippmanns Werk liest sich in Passagen wie dieser wie ein Vorbote eines Wissens,
wie Pseudoumwelten im Dienste von Partikularinteressen manipuliert werden
können. Seither sind diese Möglichkeiten immer größer und ausgefeilter geworden
– sei es in der Markentechnik, in der politischen Propaganda oder in
Experimenten zur Gehirnwäsche. Lippmann konnte in den 1920er-Jahren diese
Entwicklung noch nicht erahnen, aber er denkt die Grundlage für diesen Prozess
voraus. So lässt sich nicht nur in seinen Ausführungen zur Zensur eine Vorarbeit
zu den vielfältigsten modernen Formen erkennen, wie der Erzeugung von
Verschweigen und von Hypokognition – das heißt der bewussten Erzeugung von
Nicht-Existenz oder dem Wegfall von Ideen durch den Mangel an sprachlicher
Umsetzung dieser Ideen (Wehling 2016, S. 64, vgl. auch Graupe 2018a).
Quelle: Rubikon (verlinkt)
Die Rolle der Bildung
Können sich Menschen, kann sich die Gesellschaft überhaupt gegen diese Formen
des Missbrauchs innerer Bilder erwehren? Am Ende von Die öffentliche Meinung
deutet Lippmann immerhin an, dass es möglich sein könnte, die Pseudoumwelt, also
gleichsam das Reservoir unserer inneren Bilder, systematisch zu verbessern. Dies
kann ihm zufolge etwa dadurch entstehen, dass die Ideen entwirrt werden, indem
Wörter klar definiert werden. So soll verhindert werden, dass sie unbedacht an
emotional aufgeladene Erinnerungen gekoppelt werden. Kurz: Es geht ihm um eine
Distanzierung der Welt der inneren Bilder von den gefühlsmäßigen (wir würden
heute hinzufügen: weitgehend unbewussten), geradezu instinkthaft getriebenen
Schichten unserer Persönlichkeit. Das Ziel ist es, »unsere öffentlichen
Meinungen [wieder] in Beziehung mit der Umwelt zu bringen«. Beides kann nach
Lippmann insbesondere durch eine adäquate Wahl der Sprache erreicht werden:
»Die Wirkung des Benennens … ist von entscheidender Bedeutung. Wahrnehmungen
nehmen ihre Identität wieder an, und die Empfindung, die sie wecken, ist
spezifischer Natur, da sie nicht länger durch weitläufige und zufällige
Beziehungen … verstärkt wird. Die entwirrte Idee, die eine eigene Bezeichnung
trägt, und einer Empfindung, die untersucht wurde, ist deutlich offener für
Verbesserung durch neue, auf das Problem zielende Daten. Sie war in die ganze
Persönlichkeit eingebettet gewesen, war Beziehungen verschiedener Art mit dem
ganzen Ego eingegangen: Eine Herausforderung würde die ganze Seele erbeben
lassen. Nachdem sie gründlich kritisiert worden ist, ist die Idee nicht länger
ich, sondern es. Sie ist objektiviert, sie ist auf Armlänge abgerückt. Ihr
Schicksal ist nicht mit dem meinen verbunden, sondern mit dem der äußeren Welt,
auf die ich einwirke« (S. 339f.).
Lippmann geht gar davon aus, dass dies der Weg sein kann, »auf dem der gewaltige
zensierende, stereotypisierende und dramatisierende Apparat liquidiert werden
kann« (S. 340). Nicht die Verneinung der Existenz der inneren Bilder und deren
Macht, sondern der bewusste, ja in gewisser Weise auch schöpferische Umgang mit
ihnen tritt hier in Vordergrund, so dass die Vorstellung des Menschen nicht als
bloßes Opfer seiner inneren Bilder, sondern als deren eigentlicher Schöpfer
(oder doch zumindest Kontrolleur) möglich wird.
Der Mensch als homo pictor (Jonas 1995), als bildschaffendes Wesen, das sich
seiner Bildlichkeit bewusst ist, das heißt, seiner Fähigkeit innere Bilder zu
erschaffen, mit der sich die äußere Welt zugänglich machen (Ötsch/Graupe 2018)?
Wie können wir Menschen uns wieder die Macht über die eigenen inneren Bilder
aneignen: individuell wie kollektiv, zum Wohle der Gesellschaft? Ganz zum
Schluss seines Werkes – unter dem Titel »Appell an die Vernunft«– spürt man
förmlich, wie schwer Lippmann sich mit dieser Frage tut. »Ich habe den Schluss
dieses Buches mehrmals niedergeschrieben und ihn immer wieder in den Papierkorb
geworfen«, schreibt er. Und weiter: »Es gibt kein Schlusskapitel, weil der Held
in der Politik mehr Zukunft vor sich als fixierte Geschichte hinter sich hat.
Das letzte Kapitel ist lediglich ein Platz, wo der Autor sich einbildet, der
höfliche Leser habe begonnen, heimlich auf seine Uhr zu schauen.« (S. 342).
Lässt sich der Mensch tatsächlich »mit einem besseren Wirklichkeitssinn«
ausstatten (vgl. S. 344)? Oder ist diese Vorstellung nur »ganz und gar
akademisch«? Lippmann schwankt zwischen diesen beiden Polen, um am Ende doch
eher pessimistisch in die Zukunft zu schauen: Zu unterentwickelt sei am Ende
unsere Vernunft (etwa S. 345).
Und dennoch gibt Lippmann in dem Abschnitt zuvor (»Der Appell an die
Öffentlichkeit«) einen Ort an, an dem dieser »bessere Wirklichkeitssinn«
entwickelt werden kann. Es ist dies die Bildung, und Lippmann nennt explizit
Formen, Maßnahmen und Möglichkeiten, die an diesem Ort gezielt ergriffen werden
können. Keinesfalls ist dies der Rückfall in die naive Annahme, Wissenschaft und
Bildung könnten unmittelbar etwas über die Realität vermitteln oder sie gar in
ihrer eigentlichen Wesenhaftigkeit gleichsam treffen. Vielmehr geht es Lippmann
– das wollen wir summarisch anführen – unter anderem darum (vgl. S. 341f.) (5):
Wissen vom eigenen Geist und dessen Formen, mit unbekannten Fakten fertig zu
werden, zu vermitteln.
Kann die Bildung dieser Verantwortung gerecht werden? Wird diese Verantwortung
heute überhaupt erkannt? Wir können in der Kürze des hier zur Verfügung
stehenden Raumes hierauf nicht weiter eingehen. Es sei lediglich angemerkt, dass
aus unserer Sicht die heutige Bildung an den Universitäten und insbesondere im
Bereich der Wirtschaftswissenschaften von diesen Empfehlungen weit entfernt ist,
wie wir etwa in Graupe (2017 und 2018a) ausführlich diskutiert haben. Eine
ähnliche Lage lässt sich unserer Kenntnis nach auch an Schulen diagnostizieren (Krautz/Burchardt
2018).
Fast 100 Jahre nach Die öffentliche Meinung erweist sich Lippmann als früher
Warner vor einer Entwicklung, die mit einer derartigen Wucht über uns
hereingebrochen ist, dass es schwer fällt, eine reflexive Distanz einzunehmen.
Marketing, Werbung, politischer Spin, Politisches Framing, Beeinflussung
sozialer Veränderungsprozesse (wie etwa im Change Management, vgl. Graupe
2018b), Inszenierungen aller Art und bewusst produzierte Fake News dominieren
die Ereignisse. Es wirkt, als ob eine immer surrealer werdende kollektive Trance
das, was früher Gesellschaft geheißen hat, nur noch als Vorstellungswelt im
Sinne von Lippmann erscheinen lassen kann. Aber die Handlungswelt bleibt als
Realität bestehen. Wohl ihr letzter Anker sind Vorgänge in der Natur selbst: Im
Anthropozän schlägt die Wirklichkeit der Ökosphäre marktfundamentale,
postdemokratische und rechtspopulistische Vorstellungswelten. Wie schwer es
fällt, das Unsichtbare dieser Wirklichkeit im Sinne Lippmanns so sichtbar zu
machen, als ob die Natur (wie die Kinder im zitierten Bild von Lippmann) ihre
Beschwerden selbst an die Öffentlichkeit bringen könnte, zeigt die aktuelle
Klimadebatte.
Was und wie lässt sich in diesen, unseren Zeiten von Lippmann lernen? Wo kann
Die öffentliche Meinung uns helfen, wieder mehr Tiefgang in aktuelle Debatten
und Handlungsstrategien zu bringen? Zentral scheint uns zunächst Folgendes:
Bereits 1922 plädiert Lippmann dafür, die Komplexität der Dreiecksbeziehungen
von Mensch, Pseudoumwelt und Umwelt nicht mehr aus den Augen zu verlieren oder
auf eine bloße Gegenüberstellung von Mensch und Umwelt zu reduzieren. Gerade in
der heutigen Gesellschaft, in der wir uns mehr über Bilder von Erfahrungen, denn
mittels unmittelbarer Kontakte und direktem Austausch aufeinander beziehen, ist
es aus unserer Sicht bestenfalls naiv und schlimmstenfalls gefährlich, die
Dimension der Pseudoumwelt und ihre gestalterische Macht auszublenden. Genau
diese Art der Ignoranz stellt aus unserer Sicht aber ein Kernmerkmal aktueller
politischer Debatten dar: Während ein ganzes Heer von Think Tanks, PR-Agenturen,
Markentechnikern und Spin-Doktoren im praktischen Sinne buchstäblich von der
Ausbeutung und Manipulation dieser Pseudoumwelt lebt, und es eine
unüberschaubare Menge insbesondere ökonomischer, kognitionswissenschaftlicher
und psychologischer Forschung gibt (die dieser Praxis das notwendige Know-How
bis hinein in die tiefsten Tiefen des Individuums, die diesem selbst weitgehend
unbewusst sind, vermittelt), existiert ein breit angelegter politischer Diskurs
über gewünschte und verantwortbare Formen dieser Pseudoumwelt nicht. Auch findet
in den Bildungssystemen kaum eine Form der Aufklärung über die gegenwärtig
existierenden Manipulationsformen statt. Es wirkt, als ob sich sowohl die
Politiker als auch die breite Bevölkerung damit abgefunden hätten, stets auf der
Seite der Beeinflussten zu stehen und von einer unsichtbaren Regierung im Sinne
Edward Bernays dominiert zu werden.
Das Problem, wie wir es sehen, liegt darin, dass die Entscheidung, sich
unbewusst von einer nicht weiter erkennbaren Elite beeinflussen zu lassen,
selbst bereits auf der Ebene des Unbewussten angesiedelt zu sein scheint. Schaut
man auf Lippmanns Werk, so muss dies aber keineswegs der Fall sein: Selbst, wenn
wir als Gesellschaft darüber übereinkämen, dass wir uns in der heutigen Zeit auf
bildgebende Eliten verlassen müssen, so ließe sich dennoch durchaus wieder
Hoheit über die Frage erlangen, wer genau diese Eliten sein und nach welchen
Regeln sie agieren sollen. Doch diese Entscheidungsmacht beansprucht weder die
Politik noch die Zivilgesellschaft in ausreichendem Maße. Ja, sie wird häufig
(aus unserer Sicht zu häufig) noch nicht einmal als bloße Möglichkeit erkannt.
Stattdessen dominiert eine »Realpolitik«, die sich eng an den als real
anerkannten Bedingungen und Möglichkeiten orientiert, ohne zu verstehen, dass
diese Anerkenntnis immer schon ein bereits bestehendes Klima der öffentlichen
Meinung voraussetzt, das heißt im Sinne der Beeinflussung immer schon einen
Schritt zu spät einzusetzen droht.
In Bewusstheit der Komplexität dieser Angelegenheit können wir hier lediglich in
grober Vereinfachung einige Beispiele nennen. Die 1950er- und 1960er-Jahre
stehen politisch unter dem Bild des »Kalten Krieges«, das Lippmann selbst
mitgestaltet hat (Lippmann 1947): Die gesamte Welt erscheint wie eine Bühne, auf
der ein einziges Drama abläuft. Wirtschaftspolitisch dominiert im »freien
Westen« ein von den Lehren von Keynes inspiriertes Staatsverständnis, das dem
Staat eine aktive Rolle zuspricht und »die Wirtschaft« (international abgestützt
durch das System von Bretton Woods) anhand von sozialen Gesamtzielen zu lenken
versucht. Die Folge war die Errichtung eines Sozial- und Wohlfahrtsstaates in
einem historisch unbekannten Ausmaß, durchaus in Spannung mit der Vorstellung
einer »freien Marktwirtschaft« (Ötsch u.a. 2017. Zu den manipulativen Aspekten
im deutschen Konzept einer »sozialen Marktwirtschaft« vgl. Schindelbeck 2018).
Herrscht auf diese Weise wenigstens noch eine Art Wettbewerb grundlegender
Ideen, so wird die keynesianische Vorstellungswelt in den Krisen der
1970er-Jahre diskreditiert. Wissenschaftlich und politisch führende Kreise
(zuerst in den USA und in England, dann weltweit) übernehmen immer mehr das Bild
»des Marktes« und das darin implizierte Staatsverständnis einer »Planung für den
Markt« (Thomasberger 2012), von denen sie kaum wissen, welche unsichtbaren
Eliten sie prägen.
Zunehmend kommt es auf diese Weise zu einer Monokultur der grundlegenden inneren
Bilder: zu einem eng begrenzten, fixierten Klima öffentlicher Meinung, das auf
dieser fundamentalen Ebene keinen Wettbewerb der Ideen mehr zu kennen scheint.
Elisabeth Wehling etwa macht auf die Konsequenzen aufmerksam:
»Nur dann, wenn uns unterschiedliche, auch sich widersprechende Frames (dieser
Begriff kann hier im Sinne von Lippmanns Pseudoumwelten gedeutet werden, die
Autoren) zur Verfügung stehen, können wir über einen bestimmten Sachverhalt
umfassend denken, ihn ›von allen Seiten beleuchten‹. Nur so können wir Menschen
verstehen, wenn sie uns widersprechen, und uns konstruktiv mit ihnen
auseinandersetzen« (Wehling 2016, S. 16).
Doch nicht nur die Monokultur der imaginativen Fundamente unserer Gesellschaft
scheint das Problem zu sein, sondern darüber hinaus auch deren innere selektive
Verfasstheit. So ist in der Pseudoumwelt, die eine markfundamentale
(neoliberale) Propaganda schafft, vor allem kein Konzept von Gesellschaft mehr
enthalten. Es gibt nur eine »Ordnung« (insbesondere im Sinne von Hayeks
»spontaner Ordnung«), die für eine Totalität steht (zum Beispiel Hayek 2014, zur
Neoklassik vgl. Pirker 2011). Diese kann lediglich anerkannt, niemals aber
ihrerseits erkannt, sondern bestenfalls nur geglaubt werden (vgl. Graupe 2018a).
Auf der immer schon vorausgesetzten Ebene stillschweigender Vorverständnisse ist
diese Totalität jene »des Marktes« (Ötsch 2018). In dieser impliziten
Vorstellungswelt kann das, was früher Gesellschaft geheißen hat, unbemerkt immer
mehr ökonomischen Regeln unterworfen werden. Nach dem Zusammenbruch des
Ostblocks hat sich dieser Prozess verstärkt. Er wird nun vor allem durch das
Bild von »der Globalisierung« getragen, gegen die »wir« – so wird gesagt –
nichts unternehmen könnten. Die Politik, die diese Vorstellungswelt zu ihrer
impliziten Grundlage macht, muss, so meinen wir, nahezu automatisch ihren
gestaltenden Anspruch aufgeben, da diese ihr jegliche Erkenntnis sinnvoller
Handlungsoption immer schon entzieht. Um das Bild Seldons aufzugreifen: Es
scheint keine Infanterie mehr zu brauchen, weil der Artilleriebeschuss mit
(neoliberalen) Ideen dem politischen Gestaltungswillen von vornherein nur noch
einen verbrannten Erdboden überlässt (6).
Die Folge, so meinen wir, droht eine (postdemokratische) Abwertung von Politik
insgesamt zu sein, die sich in einer Krise der Repräsentation manifestieren
kann, in der sich Teile der Bevölkerung von den etablierten Parteien nicht mehr
vertreten fühlen. Eine eingehende Studie von Lippmanns Werk kann auf das
grundlegende Problem hinweisen: Wie soll sich die Bevölkerung bei jenen
aufgehoben fühlen, die trotz ihrer herausgehobenen Position als sichtbare
Vertreter von Herrschaft, sich am Ende ebenso blindlings einer unsichtbaren
Machtelite unterwerfen, als ob sie Teil der »Masse« selbst wären?
Die politischen Debatten der Gegenwart verweisen unserer Einschätzung nach auf
ein fundamentales Problem, das wir bereits angesprochen haben: die Hypokognition.
Dieses Problem betrifft nicht allein, wie schon beschrieben, den Wegfall
grundlegender Ideen über die politische Gestaltbarkeit von Gesellschaft. Es
trifft auch den Verlust jeglichen vermittelbaren Wissens über die Strukturen
eigentlicher Macht in unserer Gesellschaft. So kann beobachtet werden, dass sich
in den letzten Jahrzehnten wirtschaftliche Strukturen etablieren konnten, die
weder in den Wissenschaften ausreichend erkannt noch in der Öffentlichkeit
adäquat thematisiert wurden und werden, – zentrale Felder sind hier etwa die
Schattenbanken sowie Steuer- und Regulierungsoasen. Diese Teile des
Finanzsystems waren bis vor wenigen Jahren weitgehend unbekannt und erst seit
einigen Jahren gibt es Forschungen, die zeigen, dass die Finanzkrise 2007/2008
eine Krise des Schattenbankensystems gewesen ist (7). Es kann nicht überraschen,
dass viele ÖkonomInnen vom Eintreten der Krise (die oft als »Große Krise«
bezeichnet wird) überrascht waren, – eben weil sie einem fundamentalen
Nicht-Wissen, einer totalen Form von Hypokognition, unterliegen. Nach der Krise
wurde dann versucht, mit Billionensummen das Finanzsystem zu stabilisieren, aber
jene Eliten, die diesem System das Fundament bereiteten, wurden nicht
thematisiert (nicht einmal in einem juristischen Sinn), sondern blieben (und
bleiben immer noch) weitgehend unbehelligt. Im Unterschied zu historisch
vergleichbaren Krisen scheint es diesmal in einer fest etablierten Pseudoumwelt
zu keinem Wechsel von wissenschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen
Eliten kommen zu können.
Basierend auf Lippmanns Werk ließe sich hier die Vermutung äußern, dass dies
nicht allein an einem mangelnden Willen liegt, sondern dass es die dominierenden
Bilder von der Gesellschaft auf einer grundlegenderen Ebene bereits
verunmöglichen, überhaupt ein mitteilbares Wissen um diese Eliten zu erlangen.
Dies wiederum bedingt nicht nur die Gefahr politischen Stillstands, sondern ein
weiteres Risiko: Wo kein vielfältiger Boden mehr für wirkliche Erkenntnis
besteht, kann (berechtigte) Kritik und Sorge eventuell nur noch in bloßem
Unbehagen Ausdruck finden, so etwa in diffusen Zukunftsängsten in Teilen der
Bevölkerung. Was aber, wenn diese Ängste dann ihrerseits wieder manipulativ
ausgebeutet werden? Zeigen etwa genau dies die Angstparolen der
Rechtspopulisten, die auf dem Vormarsch sind?
Die Hauptfolgen der auf Basis einer manipulativ erzeugten Hypokognition und noch
lange nicht bewältigten Krisen ab 2007 liegen aus unserer Sicht auf der
politischen Ebene. Die alten Versprechungen des Bildes eines immer höheren
Wohlstandes durch die Teilnahme an »der Globalisierung« können nicht mehr
eingelöst werden; dieses Bild besitzt keine Integrationskraft mehr. Was aber
vermag an seine Stelle zu treten? Wir meinen den Schwenk eines Teils der
politischen Elite hin zu dem (geschichtlich überholten) Bild »des Volkes« (als
homogene Einheit), das den Rechtspopulismus auszeichnet, zu beobachten. Im
vordergründigen Kampf »des Volkes« gegen »die Elite« (Ötsch und Horaczek 2017)
werden soziale Fragen als nationale Fragen umgedeutet. Auf diese Weise aber
drohen, kurz gesagt, nur manipulativ verfasste Pseudoumwelten ausgetauscht zu
werden, – freilich in einer verschärften Weise, in der selbst empirisch
nachweisbare Tatbestände zu »alternativen Fakten« mutieren können. Ihr
eigentlicher, grundlegend problematischer Charakter, auf den uns Lippmanns Werk
hinzuweisen vermag, wird hingegen weder erkannt noch diskutiert.
Dies führt zu einer weiteren Frage: Wer können und sollen heute jene Eliten
sein, die den Willen und die Verantwortung aufbringen, die Welt (unsichtbar für
die Masse) zu führen? Wie könnten sie demokratisch legitimiert werden, wenn sie
doch stets drohen, jene grundlegenden Weltanschauungen zu formen, die darüber
entscheiden, was wir als Gesellschaft überhaupt unter »legitim« verstehen und
kommunizieren können? Wo und worin werden sie gebildet? Die öffentliche Meinung
zeigt, dass Lippmann damals um solche brennenden Fragen zumindest noch wusste.
Auch wenn seine Antworten recht kursorisch ausgefallen sein mögen, so zielen sie
dennoch in die richtige Richtung. Wichtig erscheint uns dabei insbesondere seine
klare Auffassung, dass die Eliten keinesfalls allein Kapitalinteressen dienen
dürfen.
Wo sind also die Eliten der heutigen Zeit geblieben? Sind sie womöglich Opfer
ihrer eigenen Propaganda geworden? Wissen die manipulierenden Eliten womöglich
nicht mehr, was sie manipulieren, weil sie selbst über kein Bild der
Gesellschaft mehr verfügen? Haben sie die durch ihre eigene Propaganda
vermittelte Abwertung der Politik selbst schon verinnerlicht? Und wenn dies so
wäre: Könnte diese – durch fehlende Bilder bedingte – Handlungsunfähigkeit der
Eliten zu dem Befund führen, dass soziale Stabilität zukünftig durch einen
autoritären Überwachungs- und Kontrollstaat garantiert werden muss, in dem die
Bevölkerung durch eine dauernde Angstmache manipulativ an die jeweilige Führung
gebunden wird? (Die Systeme Donald Trumps und Viktor Orbáns wären hier etwa
genauer zu untersuchen.)
Folgt man den Ausführungen Lippmanns in Die öffentliche Meinung genau, dann ist
keinesfalls gesagt, dass wir allein nach neuen bildsteuernden Eliten rufen
müssten. Insbesondere seine Vorschläge zur Bildung, die wir oben skizziert
haben, weisen darauf hin, dass sich Politiker ebenso wenig wie die
Zivilgesellschaft damit zufrieden geben müssen, lediglich die Rolle einer
weitgehend bewusstlosen »Masse« zu spielen. Der lange Prozess einer zunehmenden
Steuerung gesellschaftlicher »Pseudoumwelten« über ein Jahrhundert wurde nur
möglich durch eine abnehmende Bewusstheit der bildgebenden Kraft im Menschen
selbst (Ötsch/Graupe 2018). Doch jede Beeinflussung durch soziale Bilder geht
durch den Menschen hindurch, jeder und jede ist betroffen. Als soziale Wesen
benötigen wir imaginative Bilder, in denen wir uns an andere binden. Als
Gesellschaft teilen wir einen imaginativen Raum, der uns als Individuen trägt.
Wenn dieser Raum manipulativ beeinflusst wird, dann berührt die Manipulation
das, was als der kostbarste Teil jedes Menschen gesehen werden kann: seinen und
ihren imaginativen Innen-Raum.
Doch bei dieser Manipulation müssen wir Menschen keineswegs nur passive
Rezipienten spielen: Als genuin schöpferische, bildschaffende Wesen besitzen wir
die unhintergehbare Freiheit zur Kreation eigener Bilder. Jede Person kann sich
in einer potentiellen Freiheit ihre Wirklichkeit über ihre inneren Bilder
aneignen. Gewiss muss diese Freiheit entwickelt, gepflegt und durch soziale
Prozesse getragen werden. Ein Teil dieser Verantwortung liegt, wie Lippmann
zeigt, den Wissenschaften und insbesondere der Bildung anheim. Ihnen kommt die
Aufgabe zu, die mächtigsten Stereotype der Zeit erkennbar zu machen und so
Menschen zu befähigen, bewusst um Erkenntnis zu ringen und auf ihrer Basis
Verantwortung tragen zu können. Die Idee der Aufklärung über die eigenen
Voraussetzungen des Denkens und der Wahrnehmung ist keineswegs preiszugeben. Sie
ist im Gegenteil unter neuen Vorzeichen stark zu machen. Denn in der heutigen
Gesellschaft kann die Macht jener Bilder, die einer bloß sekundär erfahrenen
Wirklichkeit entstammen, nicht länger ignoriert werden. Studiert man Lippmanns
Werk gründlich, so wird deutlich, dass wir diesen Bildern heute mehr denn je
vertrauen müssen, eben weil wir nicht von allem, über das wir entscheiden
müssen, eine direkte Erfahrung machen können. Umso mehr sollten wir uns die
Frage stellen, welchen dieser Bilder und vor allem welcher Quelle dieser Bilder
wir vertrauen können und vertrauen wollen. Denn Vertrauen ist konstitutiv für
jeden sozialen Zusammenhalt. Jede Person, die in die Welt geboren wird, muss dem
sozialen Raum, in den sie hineingeboren wird, vertrauen dürfen – das gilt auch
für den sozialen Raum geteilter Bilder in der Gesellschaft.
Wir sehen mit größter Besorgnis, dass heutzutage eher bei jenen ein Wissen über
diesen Raum und dessen Veränderbarkeit besteht, die ihn für ihre eigenen Zwecke
auszunutzen suchen und dafür das stillschweigende Vertrauen unzähliger Menschen
manipulieren, ausbeuten und ultimativ aufs Spiel setzen. Doch auch wenn bei den
so Ausgebeuteten über diese Form der Ausbeutung nur noch wenig explizites Wissen
existieren mag, so scheint doch eine dunkle Ahnung zu bestehen. Was aber, wenn
diese Ahnung dazu führt, dass das Vertrauen in den sozialen Raum selbst verloren
geht? Wird dann das Kostbarste, weil auf fundamentale Weise Verbindende, das wir
in der Gesellschaft haben, zerstört? Wir meinen: Es wird höchste Zeit, dass wir
uns als Gesellschaft über die Macht innerer Bilder zumindest wieder jenes Wissen
aneignen, das vor gut 90 Jahren über sie existierte. Lippmanns Werk ist hierfür
ein guter Ausgangspunkt.
Quelle: Rubikon (verlinkt)
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Ab sofort im Handel: Walter
Lippmann: Die öffentliche Meinung, 380 Seiten, 26 Euro. |
Quelle: Rubikon (verlinkt)
Quelle: Rubikon (verlinkt)
Quelle: Rubikon (verlinkt)
Quellen und Anmerkungen:
(a)
https://www.westendverlag.de/buch/die-oeffentliche-meinung/
(b)
https://www.medienverantwortung.de/wp-content/uploads/2009/07/
Wernicke_Forschungsarbeit-Feindschaft.pdf
(1) Einen Überblick über Biographien zu Walter Lippmann gibt Wasniewski 2004,
7ff.
(2) Wir versuchen in unserer Einführung eine unmittelbare Auseinandersetzung mit
Die öffentliche Meinung, ohne die reiche Sekundärliteratur dazu systematisch
einzubauen, das hätte den hier verfügbaren Rahmen gesprengt. Ebenso wird die
Rezeptionsgeschichte des Buches nicht referiert.
(3) Genau diesen (in der heutigen Ökonomik) vergessenen Befund hat Adam Smith
(der als Begründer der Ökonomie gilt) geteilt: Er geht von einer produktiven
Imaginationsfähigkeit des Menschen aus, sie bildet die Grundlage einer
imaginativen Bezogenheit auf den Mitmenschen, woraus Mitgefühle (fellow feelings)
und moralische Normen erwachsen. Nur so wird nach Smith Gesellschaft möglich
(vgl. Ötsch 2016a).
(4) Einen direkten Vergleich der Begrifflichkeiten von Bernays und Lippmann
unternimmt Jansen 2013b.
(5) Lippmann hat in den Jahren danach diese Möglichkeiten nicht weiter betont.
1923 verfasst er The Phantom Public, er sieht dieses Buch als Fortsetzung von
Public Opinion an, das Buch wird 1925 veröffentlicht. Jetzt ist Lippmann noch
skeptischer geworden und treibt die Demokratiekritik noch weiter (Das Buch ist
heute in Vergessenheit geraten.): Die Wähler können die Details der politischen
Alltagsprobleme nicht verstehen, weil sie nicht »die Zeit, nicht das Interesse
und nicht das Wissen dazu besitzen« (Lippmann 1925, 36f.; unsere Übersetzung).
Die alten liberalen Vorstellungen von Publikum und Öffentlichkeit gelten jetzt
als reines »Phantom« oder nur als »Abstraktion« (vgl. Gárcia 2017, 7). Ein
demokratisches Regime besitzt einen inhärenten Konstruktionsfehler, der nicht
repariert werden kann (vgl. Steel 1980, 212ff.). Die Lösung des Problems der
öffentlichen Meinung bestehe nicht in mehr Demokratie, wie die Liberalen
meinten, sondern in einer konsequenten Beschränkung der Macht der Masse
zugunsten einer »spezialisierten Klasse«, die die soziale Kontrolle zu
übernehmen hat (vgl. Bussemer 2005, 87f.).
(6) Zur These der Finanzkrise als einer Krise der Schattenbanken vgl. als
Einführung Beyer u.a. 2013 sowie Lipson 2009, Nersisyan/Wray 2010, Lysandrou/Nesvetailova
2014 und Nesvetailova 2017.
(7) Zu den medialen Bildern von ÖkonomInnen zur Krise und ihrer speziellen
Hyperkognition vgl. Pühringer/Hirte 2015 und Pühringer/Egger 2018. Zur
Wichtigkeit marktfundamentaler Netzwerke von Ökonomen in Deutschland. vgl. Ötsch
u.a. 2017. Zur Persistenz der Nationalökonomie in den USA nach der Großen Krise
vgl. Mirowski 2015. Mirowski argumentiert auch mit dem dominanten Einfluss der
US-Notenbank auf die (akademische) makroökonomische Forschung in den USA, – die
Ökonomen in der Notenbank hätten ihren eigenen Beitrag zur Entstehung der großen
Krise nicht reflektiert.
Quelle: rubikon.news (verlinkt) |
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Silja Graupe, Jahrgang 1975, ist Professorin für Ökonomie und
Philosophie sowie Leiterin des Instituts für Ökonomie und
Vizepräsidentin an der Cusanus Hochschule in Bernkastel-Kues an der
Mosel.
Walter Ötsch ist ebenfalls Professor für Ökonomie und
Kulturgeschichte an der Cusanus Hochschule sowie Kommunikationstrainer
sowie gefragter Experte für Rechtspopulismus. Zuletzt erschienen von ihm
„Haider Light. Handbuch für Demagogie“ und „Populismus für Anfänger.
Anleitung zur Volksverführung“.
|
Link zum Originaltext bei ' rubikon.news ' ..hier
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09.07.2018 00:00
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Für Florian Ernst Kirner (Prinz Chaos II) ist Rainer Mausfelds neuer Vortrag:
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Werkzeugkoffer für alle, die sich aus dem Würgegriff der Herrschaftstechniken
befreien wollen. Überwiegend euphorisch sind auch die Kommentare zum
Vortragsvideo auf Youtube. JWD
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25.05.2018 01:20
Die Welt des Westens und das transatlantische Bündnis: Wer
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Sputniknews | von Raymond Adam] JWD
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18.02.2018 00:00
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Analyse - Anti-Russland-Kampagnen sind zu einem lukrativen Geschäft
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JWD
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